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Die erste Lüge meines Lebens

Triggerwarnung, da Schilderungen über emotionale Gewalt. Bitte entscheide, ob Du weiterlesen möchtest. 

 

Ich kann mich tatsächlich an die erste Lüge meines Lebens erinnern. Ich muss etwa 4 Jahre alt gewesen sein. Wir lebten damals zur Miete im Dachgeschoss eines Bauernhofs. Die Vermieter - es waren Schweinebauern - wohnten im Erdgeschoss, und mit dem jüngsten Sohn war ich befreundet. Ab und an durfte ich ihn besuchen. So auch an einem späten Nachmittag; ich durfte mit meinem Spielgefährten in der großen Essküche der Bauersfamilie sitzen und es wurde eifrig geredet. Unter anderem darüber, dass mein Papa, der Pharmaziestudent, seit neuestem einen Porsche fahre. Man könne sich nur wundern, wie es ein Student schaffe, solch ein Auto zu fahren. Ich konnte die versteckte Stichelei nicht verstehen und ich wusste auch nicht, was das Besondere an diesem kleinen Auto war. Ich erinnere mich, dass ich irgendwie am Gespräch teilhaben wollte, denn es schien ja um uns zu gehen und mir fiel nichts anderes ein, als etwas zu erzählen, worüber meine Eltern neulich am Esstisch gesprochen hatten: Dass wir umziehen. Weil die Schweine immer stinken. Und weil das Leben auf dem Bauernhof so laut war, dass mein Papa - der Student - nur schlecht lernen konnte. 

All das platzte aus mir heraus - es war etwas, worüber meine Eltern am Tisch gesprochen hatten und ich wusste nicht, dass es ein "Geheimnis" war. Die Bauersleute hörten interessiert zu und sahen sich mit wissendem Blick an. Ich durfte noch ein wenig mit meinem Freund spielen, spürte aber, dass irgendwas nicht gut war, mit dem, was ich sagte. 

Noch am gleichen Tag konfrontierte die Vermieterin meine Eltern mit dem, was ich gesagt hatte und erzählte auch, dass ich es war, die vom Vorhaben, wegzuziehen, erzählt hatte. Vor allem ärgere man sich darüber, dass man laut sei und der Hof stinke - wenn es den Herrschaften nicht passe, könne sie ruhig gehen, schrie die Vermieterin. 

Ich spielte in meinem Zimmer und hörte, was da laut im Treppenhaus gesprochen wurde - und bekam Herzklopfen. Und Angst. 

 

Wenige Augenblicke später riss mein Vater die Tür zu meinem Zimmer auf, riss mich am Arm in die Höhe und schüttelte mich: "Was hast Du den R.'s erzählt! Was hast Du denen gesagt!!" Immer und immer wieder. Mir tat mein Arm weh und ich weinte und rief: "Ich habe nichts gesagt." Ich wusste in dem Moment, dass ich gelogen hatte, denn ich hatte verraten, dass meine Eltern wegziehen möchten. 

Aber ich hatte nicht gewusst, dass es ein "Familiengeheimnis" ist. Und mir war auch nicht klar, was es bedeutet, einem Vermieter heimliche Kündigungsabsichten zu flüstern. Mir war nicht klar, dass ein Bauer sich beleidigt fühlen kann, wenn man sich über den Geruch auf seinem Hof ärgert. Es war wahr, dass es vor allem im Sommer heftig nach Schweinestall roch - ich habe nicht verstanden, warum sich die Erwachsenen so wahnsinnig aufregten. 

 

Ich wimmerte immer wieder, dass ich nichts gesagt hatte und dass R.'s nicht von mir wussten, dass wir wegziehen. Es war klar, dass das nicht stimmen konnte. Mein Vater schubste mich auf den Boden, gab mir noch einen Tritt und sah mich böse von oben an. Meine Mutter war inzwischen dazu gekommen und stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Meine Eltern bildeten eine Front, sahen kalt auf mich herab und überschütteten mich mit einer Kaskade an Vorwürfen: Ich erinnere mich, dass ich eine "Lügnerin" genannt wurde. Eine "Verräterin". Dass ich das Letzte sei. Ein Plappermaul. Und wenn wir jetzt obdachlos werden, sei ich daran schuld. Die Vermieter hätten jetzt viele Gründe, uns aus der Wohnung zu werfen. 

 

So werden sie behandelt, die schwarzen Schafe. Egal, wie alt sie sind - sie sind an allem Schuld. Ihre Aufgabe ist es, die Ängste und Unfähigkeit anderer zu kompensieren. Sie sind Blitzableiter. 

 

In dysfunktionalen oder missbrauchenden Familien werden immer wieder Ängste geschürt. Seelisch, emotional, körperlich. In einer dysfunktionalen Familie geht es nie darum, eine sachliche Lösung für ein Problem zu finden. Es geht immer unsachlich zu. Und immer einer ist an allem Schuld: Das schwarze Schaf. 

 

An die Begebenheit von damals erinnere ich mich heute, mehr als 40 Jahre später, noch so deutlich, als sei es gestern gewesen. Denn in dieser Situation zerbrach ein Stück meiner Kindheit. Meiner Unbeschwertheit. An jenem Spätnachmittag nahm mich ein lähmendes Schuldgefühl in Beschlag. Es ist nie wieder gegangen. Obwohl wir erst viele Jahre später tatsächlich ausgezogen sind. 

Meine Eltern nahmen mir meine "Petzerei" Jahre lang übel. Schmierten es mir immer wieder aufs Brot, dass ich die Schwätzerin sei, die dafür gesorgt hatte, dass wir fast die Wohnung verloren hätten. Denn immerhin hätten uns die Vermieter den Vertrag kündigen können, weil wir etwas über den Geruch und den Lärm gesagt hätten. 

 

Meine Erkenntnis, Jahre später: Das Gefährliche an Übergriffen emotionaler Gewalt ist, dass Menschen, die betroffen sind, es tatsächlich glauben, was ihnen eingeredet wird.

 

Als kleines Mädchen hatte ich noch nicht die rhetorischen Fähigkeiten, um meinem Vater Contra zu geben in Stil von: "Dann hättet Ihr mir halt gesagt, dass es ein Geheimnis ist." Wer von klein auf verunsichert wird, zweifelt in der Zukunft ununterbrochen an sich selbst und seiner Wahrnehmung und wehrt sich nicht gegen die verbalen, emotionalen und körperlichen Attacken missbrauchender Familienmitglieder. 

 

Diese Situation, damals, Ender der 70er, hat mein Leben weitreichend geprägt. Ich wurde zutiefst verunsichert und mit Schuldgefühlen überschüttet - und das war Absicht. Meine Eltern lenkten von ihrer eigenen Unfähigkeit, Konflikte und Situationen konstruktiv zu lösen, ab, in dem sie ihr eigenes Versagen auf das schwächste Glied schoben: Mich, das Kindergartenkind. 

 

Ich wusste damals nicht, was missbrauchende oder disfunktionale Familien sind. Meine Eltern waren mein Universum. Was sie sagten, wurde zu meiner Wahrheit. 

 

Mich haben die Schuldgefühle Jahrzehnte lang wie schleimige Tentakeln daran gehindert, frei und unbeschwert zu leben. Die Schuldgefühle, die damals gepflanzt wurden, würgten meine Seele bis zur Ohnmacht. 

 

Erst, als ich mich Jahrzehnte später damit befasst hatte, dass meine Kindheit keine normale Kindheit war...erst, als ich diesen Erlebnissen einen Namen gegeben hatte - dysfunktionale Familie - erst dann löste sich langsam der Klammergriff der Schuldgefühle. 

Aber die Erkenntnis hat leider Jahre gedauert. 

 

Ich wünsche Dir viele, viele Erkenntnisse. 

 

Sei gut zu Dir. Liebe Grüße. Steph

 

 

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