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Wenn Worte die Seele würgen

"Sei doch nicht so!". Diese vier Worte hallen noch immer in meinem Gedächtnis und bringen meine Seele zum Vibrieren. Aber sie ist dabei, sich aufzulösen, diese Unsicherheit, die die Frucht dieser vier Worte war. Diese Verwirrung mir selbst gegenüber. Ich habe verstanden, dass in meiner dysfunktionalen Familie Worte eine von vielen Waffen waren, um die Kinderseele klein zu halten - bis ins Erwachsenenalter. 

"Sei doch nicht so!" Es sind nur vier Worte, die aber eine brachiale Gewalt entwickelten - über die Jahrzehnte, in denen sie mir gesagt wurden. Sie haben mich ohnmächtig gemacht, denn egal, welche Rückfragen ich stellte im Stil von "Wie bin ich denn??" - die Antwort war immer zerstörerisch. 

Es war der Lieblingssatz meiner Mutter, den sie mir entgegenschmetterte, wenn ich aufbegehrte. Wenn ich mich kritisch äußerte, als ich älter wurde. Wenn ich das, was meine Eltern taten, in Frage stellte. Eine normale Kommunikation, die Konflikte löst, habe ich nie gelernt. Ich erinnere mich an eine Situation an einem Sommersamstag Ende der 70er. Ich war noch kein Schulkind. Ich ging mit meiner Mutter zum Dorfbäcker, der einen Sohn im gleichen Alter wie ich hatte. Wir waren im selben Kindergarten und wir waren keine Freunde. Aber meine Mutter war der Meinung, man müsse sich mit dem Dorfbäcker gut stellen und so tippelte sie - aufgetakelt wie immer - zur Bäckerei, mich im Schlepptau, und schob mich nach dem Brotkauf an die Theke. Mit süßer Stimme zwitscherte sie der Bäckersfrau die Ohren voll: Ich würde immer von M. (der Bäckerssohn) erzählen, und dass ich mich nicht trauen würde, ihn zum Spielen einzuladen, obwohl wir doch nur ein paar Meter voneinander entfernt wohnen. Und dass ich M. gerne mein Zimmer zeigen würde. Und sie - meine Mutter - soll in meinem Auftrag fragen, ob M. an diesem Mittag zum Spielen kommen möchte. Jedes Wort, das sie sagte, war gelogen. Aber sie trug es geschickt und glaubhaft vor. Ich konnte in dem Moment nichts sagen - denn ich hatte ja auch gelernt, meine Eltern niemals bloß zu stellen vor anderen Leuten. Auf dem Heimweg habe ich geweint - ich wollte M. nicht als Spielkamerad haben. Aber meine Mutter hat nur gelacht: "Du bist doch nicht normal", sagte sie und zerrte mich am T-Shirt-Ärmel nach Hause. M., der ein Außenseiter war, kam tatsächlich an diesem Mittag zu Besuch und ich versteckte mich im Keller. Liebe kann man nicht erzwingen. Freundschaft auch nicht. Meine Mutter fand mich in meinem Keller-Versteck, zerrte mich am Arm aus meinem dunklen Verließ und zischte wütend: "Sei doch nicht so, Du Eifersuchtsknödel."  Meine Abwehr gegen die aufgezwungene Kameradschaft interpretierte sie wieder zu ihren Gunsten: Ich sei eifersüchtig, weil sie zu einem anderen Kind nett war. Ich erinnere mich, dass ich nicht eifersüchtig war - ich hasste aber diese erzwungene Kameradschaft, und die Lügen, die meine Mutter auf meine Kosten vorgeschoben hatte. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich an den Esstisch zwang, wo M. wartete, und sie packte eine Menge Spiele aus. Wir spielten zu dritt, aber schweigend. Denn auch M. fühlte sich in dieser Situation nicht wohl. Er ging nach kurzer Zeit, unter einem Vorwand. Meine Mutter war aufgebracht über mein Benehmen, meine Eifersucht (die es gar nicht gegeben hatte) und darüber, dass ich ihr den guten Kontakt zur einflussreichen Bäckersfamilie jetzt wohl versaut hätte. Mein Vater kam am Abend nach Hause, und beim Abendessen wurde ausgiebig darüber diskutiert, wie unnormal ich sei - nicht mal Freundschaften hätte ich. Ich lernte an diesem Tag, dass ich ein chronisches Eifersuchtsproblem habe, dass ich frech bin und egoistisch. 

Ich habe auch gelernt, dass meine Wahrnehmung und mein Bedürfnis, mir auszusuchen, mit wem ich spielen will,  falsch, albern und dumm ist. Die Verpackung hierfür hieß "Sei doch nicht so!" Als ich klein war, konnte ich die Gefährlichkeit dieser vier Worte nicht einschätzen. Ich schluckte sie, pflanzte sie in mein Gehirn und gab mich dem schleichenden Prozess hin, dass mit mir etwas nicht stimme. Denn nichts anderes impliziert der Satz "Sei doch nicht so." Er hat mich gelähmt. Jahrzehnte lang. 

Als ich erwachsen war, ging meine Mutter immer noch mit diesen vier Worten auf mich los. Wenn ich mich abgrenzen wollte. Wenn ich nicht auf ihre Aushörverhöre reagieren wollte. Wenn ich "Nein!" gesagt habe. 

Dann kam ein empörtes, nahezu verzweifeltes "Sei doch nicht so!" und das Ausrufezeichen wurde so deutlich ausgesprochen, dass es förmlich im Raum stand und zur Totschlagkeule wurde. 

Ich habe mich gewehrt und verzweifelt die Frage zurück geworfen: "Wie hättest Du mich denn gern, wenn ich nicht so sein soll, wie ich bin?" Meine Mutter hat nie lange überlegt, sondern feuerte immer ganz ruhig zurück: "Normal eben. Wie andere Töchter auch."

Ich habe von klein auf zu verstehen bekommen, dass ich nicht richtig bin, wie ich bin. Dass meine Wahrnehmung und meine Bedürfnisse falsch sind. Dass ich falsch bin - in allem, was ich tue, wie ich es tue. Und vor allem in dem, was und wie ich es fühle. 

Und ich habe es tatsächlich geglaubt, was mir meine Mutter beigebracht hat. Meine Familie war - so grausam sie agierte - mein Universum, in dem ich festgeklebt war. Ob ich wollte oder nicht. Aber ich habe es geschafft, diese vier Worte "Sei doch nicht so" umzudrehen in vier andere Worte:  "So bin ich gut."

Es war ein langer Prozess. 

 

Sei unbedingt gut zu Dir!

 

Herzliche Grüße! Steph

 

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