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1984: Meine Gefühlsfamilie und ich!

10. Geburtstag, 1984
10. Geburtstag, 1984

Liebe Leserinnen, liebe Leser. 

Heute möchte ich wieder mal Einblick in mein persönliches Fotoalbum geben und ein Familienbild aus dem Jahr 1984 zeigen: Da wurde ich 10 Jahre alt und meine Gefühlsfamilie hat sich mit aufs Bild gesellt. 

Ganz links seht Ihr die alte "Taubheit". Die habe ich erst relativ spät kennen gelernt und nein: ich höre gut. Die Taubheit hatte sich meiner Seele angenommen, denn schon lange vor meinem 10. Geburtstag habe ich festgestellt: Wenn ich weniger fühle, habe ich weniger Schmerz. 

Neben der Taubheit seht Ihr die liebe "Erstarrung". Sie hat mir beigebracht, dass ein emotionaler Totstell-Reflex überlebenswichtig für Kinder in dysfunktionalen Familien sein kann. Bei mir war es so. Nichts mehr fühlen, Gefühle abschalten, wegdrücken, nicht mehr nachdenken, nichts hinterfragen - mit 10 Jahren wusste ich, wie das geht. 

Dann ganz groß im Bild: Die dicken Minderwertigskeitsgefühle. Auch die feierten von klein auf immer mit. Meine Eltern haben mir beigebracht, wie man den Kontakt zu Minderwertigkeitsgefühlen hegt und pflegt, ein Leben lang. Sie waren so oft eingeladen, dass wir quasi wie Zwillinge waren: Unzertrennlich. 

Und last, but noch least: Der altbekannte Stress. Stress mit all seinen Ablegern wie Unsicherheit und Flucht. Der Stress ist auch schon von klein auf an meiner Seite und hat mir vermutlich bereits  in der Wiege die Händchen gehalten. Er hat mir gezeigt, dass das Leben unberechenbar ist und dass es weder Sicherheit, noch Geborgenheit für mich bereit hält. Quasi auf permanenter Flucht im schönen Einfamilienhaus am reich gedeckten Gabentisch - fürs Foto. "Toll, so viele Geschenke", haben Außenstehende anerkennend gelobt, gefolgt von "Du hast es aber gut."

 

Materielle Geschenke wiegen aber niemals das auf, was die Kinderseele an Entbehrungen aushalten muss. Mir wären weniger Geschenke lieber gewesen, dafür mehr Geborgenheit, mehr Sicherheit. 

 

Das ist also meine alte Gefühlsfamilie, die mich von klein auf begleitet hat. Ich habe mir übrigens eine neue Gefühlsfamilie gesucht. Die stelle ich demnächst hier vor :-)

 

Zum Thema Geschenke möchte ich noch was loswerden: Die Gabentische an Weihnachten, Geburtstag und Ostern waren bei mir immer üppig gefüllt. "Quantität statt Qualität", lautete hier die Devise meiner Mutter. Sie hat mich irgendwie nie gekannt, denn nur selten habe ich bekommen, was ich mir wirklich gewünscht habe oder was ich tatsächlich brauchte oder was mir gefiel. Ich bekam in der Regel Dinge, mit denen ich nichts anfangen konnte, die ich schon hatte oder die völlig "daneben" waren und die meiner Mutter gefielen, aber nicht mir. Ich erinnere mich an mein Geschenk zum 18. Geburtstag: Es waren Haus-Puschen in Tigerfelloptik wie ältere Frauen sie im Krankenhaus tragen. In Größe 36. Ich habe 39. 

 

In meiner dysfunktionalen Familie erlebte ich - so seltsam es klingen mag - unter anderem Abwertung via schräge Geschenke. Und ich lernte sehr früh, dass das, was ich über meine Wünsche ausdrücke und was mich damit auch ausmacht, keine Bedeutung hat. Statt Bücher, die ich mir wünschte, bekam ich Lektüre von Hermann Hesse (Lieblingsautor meiner Mutter).  Mir wurde in jedem Lebensbereich das Ideal meiner Mutter aufgezwängt. Wer in einer dysfunktionalen Familie aufwächst, bekommt das Recht auf ein eigenes Ich in der Regel verwirkt. 

 

Das Tragische daran ist, dass man überhaupt nicht merkt, wie man Stück für Stück vergiftet wird. Diese Abwertung über verschiedene Kanäle ("Geschenke" ist nur einer) war für mich nach Jahren so normal, dass ich es nicht mehr gemerkt habe, wie ich Stück für Stück förmlich zerlegt wurde und mich quasi auflöste.  

Ich wurde nicht gefragt: "Was brauchst Du, um zu wachsen?", sondern: "Was musst Du tun, damit wir Eltern uns gut fühlen?". 

 

Aber zum Glück ist nichts in Stein gemeißelt. Ich habe mir angefangen, ,meine Seele Stück für Stück zurück zu holen. Der erste Schritt war, zu erkennen, in welchem Täter- und Täterinnenmilieu ich groß geworden bin. 

 

Der zweite Schritt war und ist, zu identifizieren, welche Anteile der anderen ich in mir aufgenommen habe. Das ist eine kniffelige Arbeit, aber mein Leben im Hier und Jetzt, mit all seinen Stolperfallen und Spiegeln, zeigt mir, was meins ist und was nicht. Ich kann identifizieren, was bleiben kann, was meins ist. 

 

Was mir hilft ist, Tagebuch über meine Gefühle zu führen, in Verbindung mit Erlebnissen. Also was hat was mit mir gemacht? 

 

Ich möchte ein Beispiel schildern: Meine Mutter hat mir nichts zugetraut. In Wahrheit hatte sie wahnsinnig Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren, und diese Angst übertrug sie auf mich. Egal, was ich machen wollte: Es war zu gefährlich. Dass ich überhaupt jemals Radfahren lernen durfte, grenzt an ein Wunder. Ihre Ängste, die sie als wohlwollende Sorge getarnt hat, trieben seltsame, quälende Blüten, die mich ungemein stressten, von klein auf. Ihre Mimik und Gestik allein ließen mich schon erschrocken zusammenzucken. In vermeintlich gefährlichen Situationen hat sie immer die Luft zwischen den Zähnen eingezogen, als habe sie sich verbrannt, und ich wich erschrocken zurück. 

Ich bin selber Mama geworden und für mich war von vorneherein klar: Ich werde alles anders machen. Als meine Tochter anfing, die Welt zu erkunden, habe ich sie bestärkt: "Du machst das super! Ich bin stolz auf Dich! Und ich bin in der Nähe und fange Dich auf", wenn sie beispielsweise im Wald auf liegenden Baumstämmen balancieren wollte. Ich ließ los - und hielt eine Hand zum Greifen bereit. Und dennoch machte ich einen gravierenden Fehler: Da mich meine Eltern früher radikal von meinen Großeltern abschirmten und ich nur wenig Kontakt zu diesen haben durfte, wollte ich es anders machen: Mein Kind sollte Kontakt zu allen Familienmitgliedern haben. Für mich war es - obwohl erwachsen - normal, mich im toxischen Umfeld zu bewegen. Und so ließ ich meine toxische Mutter an meinem Leben teilhaben. Mein Kind sollte Kontakt zur Oma haben dürfen, was mir damals verwehrt wurde. 

Während ich meiner Tochter von klein auf beibrachte, dass ihr die Welt offen steht und sie alles lernen kann, was sie will, wurde ich als Mutter abgewertet: "Du bist so verantwortungslos!" wetterte meine Mutter. Immer und immer wieder. Ich zeigte meiner Tochter die Welt und ließ sie auf dem Spielplatz klettern, ich in sicherer Nähe und mit aufmunternden Worten, während meine Mutter daneben stand, ihren Zischlaut machte und immer stöhnte: "Oh Gott, ich kann nicht hinsehen. Sie fällt! Sie fällt! Und Du bist schuld!"

Sie hat mir mehr als ein Mal ins Gesicht gesagt, dass ich unfähig sei, ein Kind groß zu ziehen. Sie sei die bessere Mutter und ich solle ihr das Enkelkind einfach überlassen. 

Sie überschüttete meine Tochter ebenfalls mit Massen an Geschenken. Auch hier wieder: Masse statt Klasse. Für mich war das Unnormale einfach normal geworden, im Laufe der Jahre. 

 

Ich hing ewig in diesem Sumpf der emotionalen Abhängigkeit fest und ich schleppte auch meine Tochter da rein. Kinder wie ich, die von klein auf emotional und körperlich missbraucht wurden, erkennen die toxischen Bande einfach nicht mehr. Auf der Suche nach Angenommenwerden begeben sie sich immer und immer wieder in die Familienreihe zurück, um sich weiter instabil machen zu lassen. 

 

Meine Mutter hat es geschafft, mir einzureden, dass ich eine schlechte, egoistische und unverantwortliche Mutter sei, wenn ich mein Kind seine Erfahrungen machen lasse. Wenn irgendwas passiert - ich bin schuld. Getoppt wurde das dann noch von meinem Exmann, der mir genau das selbe im die Seele flüsterte: Du bist nichts, Du kannst nichts, und Du taugst auch als Mutter nichts. 

 

Es gab dann tatsächlich eine Phase, in der ich starke Ängste entwickelt habe, wenn meine Tochter "ihr Ding" drehte: Sich verabredete, weg ging - wie es als Heranwachsender normal ist. Ich fühlte mich wie ferngesteuert, wenn diese Angstkaskade losging und die wildesten Bilder in mir erzeugte. Meine Tochter ist ein tolles, zuverlässiges Mädel; sie hält sich an Absprachen. Ich vertraue ihr. Wir haben einen echt guten Draht. 

Umso mehr hat mich verwundert, dass ich förmlich Angstzustände entwickelte. Bis ich festgestellt habe, dass es ein mir eingepflanzter Anteil war, der hier agierte: Ich hatte die Ängste meiner Mutter übernommen. Sie hatte im Prinzip Panik, dass ich mich von ihr weg entwickele, mit jedem Jahr, mit dem ich älter wurde. Für sie war es nicht normal, dass sich ein Kind über Erfahrungen ent-wickelt, eigene Interessen hat, einen eigenen Freundeskreis aufbaut und über kurz oder lang auch eigene vier Wände haben wird.  Sie hatte Panik, die Kontrolle über ihr Spielzeug zu verlieren. 

 

Was sie bei mir angefangen hatte, setzte sie indirekt bei meiner Tochter fort: Ich hatte ihre Ängste über das ständige Einreden, dass ich eine üble Mutter sei, tatsächlich übernommen. Wenn ich meiner Tochter etwas erlaubte, plagte mich wenig später das schlechte Gewissen: "Wenn ihr jetzt was passiert, bist Du daran schuld, weil Du es ihr erlaubt hast" - solche Gedanken quälten mich. 

 

Aber auch hier war der wichtigste Schritt, dass ich genau diesen Mechanismus erkannte. Ich bin nicht die Angst. Ich bestehe nicht aus dieser Angst. Es ist der Angst-Anteil meiner Mutter, den ich aus Gewohnheit, Loyalität, übernommen hatte und inzwischen erfolgreich eliminiert habe. Ich bin - trotz meiner Dellen und Kratzer auf der Seele - eine tolle Mutter geworden. Ich bin eine Mama mit Schäden auf der Seele. Ich mache Fehler, keine Frage. Aber ich bin in der Lage, mich permanent selbst zu reflektieren und Korrekturen an mir vorzunehmen, wenn ich merke, dass mich hier und da ein toxisches Band meiner dysfunktionalen Familie ins Straucheln bringen will. 

 

Ich wünsche Euch von Herzen das Allerbeste.

 

Seid unbedingt ganz gut zu Euch. 

 

Steph

 

 

 

 

 

 

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