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Sieht man einer Familie an, dass sie dysfunktional ist?

Hätte irgendjemand in unserem Umfeld vermutet, dass hinter den geschlossenen Türen unseres Zuhauses emotionale und körperliche Gewalt gegen Mensch und Tier förmlich zelebriert wird?

Ich sage ganz klar: "Nein". 

Dysfunktionale Familien erkennt man nicht unbedingt daran, dass man in sozial oder finanziell schwachem Umfeld lebt. Man erkennt dysfunktionale Familien nicht daran, dass der Vater Alkoholiker ist und die Mutter nie eine Ausbildung hatte. 

Niemand hätte auch nur im Ansatz vermutet, dass meine Eltern massive Probleme hatten - die sie gut zu kaschieren wussten. Ich denke, dass sie nicht mal selbst wussten, dass das, was sie taten, alles andere als gesund war. Ich wusste es nicht mal selber und habe es erst Jahrzehnte später erkannt und war erst dann in der Lage, die Vorkommnisse zu benennen. Ich erlebte Gewalt in unterschiedlichen Formen und Missbrauch auf verschiedenen Ebenen. Beteiligt waren meine Mutter und mein Vater. 

Mein Umfeld schien geordnet: Mein Vater studierte Pharmazie, meine Mutter hatte eine Agentur eines Versandhandels. Wir lebten in einem kleinen Dorf in der Nähe von Freiburg. Dort eröffnete mein Vater dann auch seine erste Apotheke. Die Dorfbewohner schauten anfangs zum "Herrn Apotheker" auf - denn er hatte mit der Apotheke eine klaffende Versorgungslücke im Umkreis geschlossen. Meine Eltern kauften ein altes Bauernhaus im selben Ort, bauten es um und es entstand ein prächtiges Wohnhaus, für das es viel Bewunderung gab - aber auch viel Kritik. Denn für den Ausbau hatte man ausschließlich Handwerker aus den Nachbargemeinden engagiert und keine Betriebe aus dem Ort. "Wir wollen nicht, dass die Dorfhandwerker überall rumerzählen, wie toll wir wohnen oder was wir bezahlt haben", sagte meine Mutter immer. Meine Eltern erwarteten also, dass sie viel Umsatz von den Dorfbewohnern, die in die Apotheke strömen sollten, bekamen. Sie gaben aber außer Arroganz nichts zurück. Und wunderten sich über die Ablehnung, die entstand. 

 

Als Student fuhr mein Vater mit einem Porsche durchs Dorf, später mit Mercedes und Pferdeanhänger. Meine Mutter, die inzwischen die Versand-Agentur geschlossen und in der Apotheke angefangen hatte, ging im Cashmere-Mäntelchen zum Einkaufen. In der Schule wurde ich "Bonzenkind" genannt und ausgegrenzt.  Meine Eltern waren nie in der Lage, ihr eigenes Verhalten in Frage zu stellen. Der extrem nach außen zur Schau gestellte neue Reichtum, gepaart mit Überheblichkeit, kam in dem kleinen Dorf nicht wirklich gut an. Nach nur 2 Jahren brachen meine Eltern die Zelte in dem Ort ab. Die Apotheke wurde verkauft, das Haus auch. Nächtelang saßen meine Eltern am Esstisch und klagten einander ihr Leid, das ich morgens zum Frühstück und Abends beim Essen als volle Ladung serviert bekam.  Schuld daran, dass wir gehen " mussten", war "das Dorf". Schuld waren die Kunden, die wegblieben. Schuld waren die Dorf-Menschen, die dumm und neidisch waren. Das waren die Worte meiner Eltern.

Mit dem Verkauf und dem Wegzug startete eine Odyssee durch halb Baden-Württemberg - denn immer wieder eröffneten meine Eltern eine Apotheke, kauften ein Haus - um nach spätestens 2 Jahren wieder die Zelte abzubrechen. Immer aus den selben Gründen.  

Wir waren die Apothekersfamilie - mit eigenem Betrieb. Einem Haus. Großen Autos. Renn- und Reitpferden. Ich besuchte Privatschulen - insgesamt war ich auf 13 Schulen, weil wir ständig umzogen. Ich wurde durch die Gegend geschoben wie eine Yucca-Palme. Fiel das meinen Großeltern nicht auf? Stellte niemand irgendwann mal kritische Fragen? Hätte ich in der Familie nicht Schutz und Halt finden können? Auch hier: Klares Nein.

 

Denn in einer dysfunktionalen Familie wird auch das familiäre Umfeld verbrannt.

 

Meine Mutter berichtete immer wieder von ihrer Mutter, die sie oft geschlagen hätte und weshalb sie keinen Kontakt haben wollte. Und der Opa väterlicherseits sei Alkoholiker und ein Spanner - auch hier gab es kaum  Kontakt und wenn, war er krisengeschüttelt.  Einer Täterumfeld, das man per se meiden sollte. Da sich meine Eltern vom familiären Umfeld abgrenzten, wurden wenig Fragen gestellt. 

Ich habe keine Geschwister - alle "Ausbrüche" haben sich auf mich konzentriert. Und ich selbst habe erst mit weit über 40 Jahren erkannt, dass das, was ich erlebt habe, in dieser Unternehmerfamilie, nicht normal ist. Meine Wahrnehmung war gespickt mit blinden Flecken, die man mir wohl bewusst zugefügt hatte, von klein auf. 

Mein Fazit heute ist: Ich vermute, dass sehr viele Familien, von denen man es nie vermuten würde, dysfunktional sind. Man erkennt Dysfunktionalität nicht an äußeren Parametern wie Kleidung oder Wohnumfeld. Das Werk einer dysfunktionalen Familie erkennt man an den Schatten, die sie auf die Seelen in ihrem Machtfeld wirft. 

 

Seid gut zu Euch. 

 

Liebe Grüße. Steph

 

 

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