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Trojaner im Kopf oder: Dein Anteil ist nicht mehr mein Anteil

Liebe Leute da draußen. 

Wie Ihr vielleicht gelesen habt, hilft mir der Einsatz von Pastellkreide und Papier ganz gut, um Themen, die mich lähmen (ui, ein Reim...), zu visualisieren und somit auch zu identifizieren.  Der Effekt dabei ist, dass unmittelbar danach ein Transformationsprozess in Gang kommt. 

 

Heute möchte ich Euch einen Zyklus dieser Bilder, die entstanden sind, zeigen.  Bild römisch 1/I: Ich nenne es "mein Werte-Rad" und es bezieht sich auf mein Verständnis davon, wie ich meine Tochter groß gezogen habe. 

Trotz aller Schocks und Schmerzen, die ich selbst erlitten habe, habe ich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen meine Wertesysteme entwickelt. Wohlgemerkt: MEINE Werte. Schon lange bevor ich Mama wurde, wusste ich, was ich meinem Kind auf den Lebensweg mitgeben möchte und das habe ich auch so umgesetzt. Mein Sein als Mama war geprägt von Ruhe, Liebe und Bestärkung. Ich habe meiner Tochter von klein auf vermittelt: "Du schaffst alles, was Du willst. Lebe das, was Dich glücklich macht."

Inzwischen ist sie erwachsen und ich bin stolz wie Bolle auf sie. Sie sucht sich ihren Weg, findet Methoden. Und sie macht das prima. Und ich bin der Support im Hintergrund, auf den sie zugreifen kann, wenn sie mag. Für mich war von jeher klar, dass mein Kind nicht mein Besitz ist, der mich glücklich zu machen hat - so wie ich es erlebt habe. 

 

Und trotz aller Reflektiertheit gab es da was, was mich in ein seltsames Muster fallen ließ, das so gar nicht zu mir passt. Ich habe es gestern schon im Blog angedeutet: Je mehr sich meine Tochter entwickelte, je eigenständiger sie wurde, desto häufiger wurde ich von diffusen, aber auch starken Ängsten heimgesucht. 

Es gab folgende Situation, die mich über Umwege zur erlösenden Transformation führte: Meine Tochter besuchte mich, wir aßen zusammen und sie erzählte mir von einer gesundheitlichen Herausforderung (nichts Lebensbedrohliches!), die sie im Moment beschäftigt. Ich kenne das Thema, wir arbeiten seit längerem da auch gemeinsam daran, wenn sie es wünscht. Sie ist jedoch ein ganz eigenständiger Mensch, der sein Leben selbst rocken will. Ich sehe mich als Support, auf den sie zugreifen kann. Sie war an jenem Besuchstag aufgewühlt, brauchte meinen Rat, hatte aber selbst schon eine super Lösung mitgebracht und wir entwickelten gemeinsam eine Strategie. Die Aufregung bei ihr legte sich und ich wusste, ich bin der Fels in der Brandung, den sie in dem Moment gebraucht hat. 

Es war alles klar. Wir hatten eine Lösung gefunden und das Signal von mir, dass ich helfe und bin da, war gesetzt. 

Sie fuhr winkend von dannen. Es war alles gut. 

 

Aber nicht lange. Schon wenig später kroch so ein Unbehagen in mir hoch. Eine Art Beklemmungsgefühl, das von einer Unruhe vorangetrieben wurde. Mit Meditation konnte ich für etwas Ruhe sorgen, aber über Nacht manifestierte sich die Unruhe und schrie mich in den Morgenstunden wach. "Dass Du so ruhig bleiben kannst", brüllte es vorwurfsvoll in mir. "Du kümmerst Dich nicht genug!" bellte es weiter. Und ich spürte, wie sich eine Art Spirale aufschaukelte, getrieben von Vorwürfen. Schuldvorwürfen. In etwa kann man sich dieses Gedanken-Domino so vorstellen: "Du bist ja krass! Da hat Dein Kind Gesundheitsprobleme und Du? Du liegst hier rum. Kümmerst Dich um nichts. Anstatt zu recherchieren, machst Du Dir einen schlauen Lenz. Wenn ihr was passiert, ist es Deine Schuld! Ganz allein Deine Schuld! Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Lösung, aber Du bist zu faul, Dich damit zu befassen. Vielleicht ist das, was sie hat, gar nicht so harmlos. Vielleicht ist es eine schwere Krankheit. Wenn sie stirbt, ist es Deine Schuld!" 

Und dann kam ich in Aktion. Ich recherchierte. Zum x. mal. Ich rief sogar eine Beratungshotline an. Und ich bombardierte meine Tochter per Whatsapp mit Fragen: "Hast Du schon..., "Warst Du schon...", "Soll ich..." gefolgt von "Ich mache mir solche Sorgen!"

 

Dieses Gefühl "Alles ist gut" war wie weggeblasen. Meine Tochter war genervt, ich mit den Nerven am Ende. Vor Angst, Sorge. Meine Tochter sagte dann einen prägnanten Satz: "Mama, diese ganze Aufregung - das bist Du doch gar nicht!" 

 

Ich hielt inne - und es machte "Klick!" Diese Angst, die ich spürte, war nicht meine. Aber woher kam sie?

Ich überlegte, wie ich eine Antwort finden könnte, nahm meinen Block, meine Pastellkreide, und legte los: 

 

Ich malte (Bild I) mein Werte-Rad für das Thema "Was gebe ich meinem Kind auf den Weg ins Leben mit". Es entstand ein Tortendiagramm, aber Zahlen und Verhältnisse spielen da überhaupt keine Rolle. Alles, was MIR wichtig ist, bekam eine Farbe, einen Namen und einen Anteil. Anteile benannte ich, in dem ich verschiedene Situationen im Leben meiner Tochter Revue passieren ließ und was ich dabei fühlte und sagte. 

Und wie von Zauberhand entstand auch ein schwarzer Anteil. Er trug den Namen "Angst". Und es kam sofort: "Du bist schuld, wenn was passiert!". Uaaah...ich fühlte sofort eine Anspannung in mir. "Das ist definitiv nicht meine Angst", sagte ich laut. 

 

Denn Ihr müsst Euch vorstellen: Ich selbst fahre Motorrad. Meine Tochter fährt Motorrad. Ich habe damals für die 125er sogar mein Einverständnis gegeben im tiefen Vertrauen, dass sie gut geschützt und eine prima Fahrerin ist. Es war ihr Herzenswunsch, gepaart mit dem tiefen Verlangen nach Unabhängigkeit. Und ich habe das so unglaublich gut verstanden. 

 

Ich habe tiefes Vertrauen in die Unversehrtheit meiner Tochter. Warum aber tauchte plötzlich diese vorwurfsvolle, bitterschwarze Angst in mir auf, obwohl wir schon eine Lösung für das ktuelle Thema gefunden hatten?

 

Ich nahm ein neues Blatt und malte den schwarzen Anteil separat auf und stellte die Frage: "Angst, woher kommst Du? Was willst Du mir sagen?" Und die Antworten prasselten wie von selbst aufs Blatt: 

  • "Du bist schuld, wenn ich mich aufrege!"
  • "Wer wagt, gewinnt NICHT!"
  • "Du machst mir Kummer!"
  • "Genieße ja nicht das Leben! Bleib' ganz nah an mir dran!"

Mir stiegen die Tränen in die Augen. Dieser schwarze Anteil war nicht meiner. Ich hatte ihn übernommen. Von meiner Mutter. 

 

Meine Mutter hatte unzählige Werkzeuge, um mich mein Leben lang zu kontrollieren. Angst beziehungsweise Pseudo-Besorgnis war eine Methode, um mich schlicht und einfach zu kontrollieren und klein zu halten. Da sie ständig "Angst" um mich hatte, hatte ich permanent ein schlechtes Gewissen. Das schlechte Gewissen sorgte dafür, dass ich mich freiwillig transparent machte: "Schau, es ist alles gut. Ich habe dies gemacht und jenes." oder "Ich habe auf dies verzichtet und das, damit Du Dich nicht über mich aufregen musst, Mama." Angst war ein klebriger Leim, den sie ausgelegt hatte, damit ich mich kaum von ihr wegbewegen konnte. 

 

Und das Spielchen ging weiter, als ich selbst Mama wurde: Zuvor wurde ich als Kind und Tochter und Mensch abgewertet, dann auch als Mutter: "Wie egoistisch Du bist! Du kümmerst Dich gar nicht! Du bist verantwortungslos!", die Litanei an Vorwürfen und Verunsicherungen war ellenlang. Und wieder lebte ich in einer bipolaren Welt: Ich selbst fand, dass meine Tochter und ich einen echt guten Groove miteinander hinlegten - aber je besser es uns miteinander ging, desto stärker wurden die Vorwürfe meiner Mutter. Und ich habe es nicht gemerkt. Sie machte sich ständig Sorgen um mich und meine Tochter - aber es gab keinen Grund. Aber ich fühlte mich permanent schlecht und unsicher. 

 

Ich habe nicht gemerkt, dass die  "Angst" beziehungsweise die "Pseudo-Besorgnis" meiner Mutter nur eine Methode war, um mich zu steuern, zu kontrollieren. Wer sich nicht sorgt, ist ein schlechter Mensch. Nur eine Mutter, die permanent Angst um ihr Kind hat, ist eine gute Mutter. Das waren die, ihre Botschaften, die sich in mein Werte-System einschlichen. 

Und der schwarze Anteil hat es tatsächlich geschafft, mein eigenes Werte-Rad unrund laufen zu lassen. 

Als ich den schwarzen Anteil malte, kam die Botschaft: "Besorgnis macht Druck". Aber man kann durch zwei Punkte dem ganzen Satz eine gewaltige, andere Bedeutung geben: "Besorgnis. Macht. Druck."

 

Mit jedem Auflösen einer Schicht in meinem System wird mir bewusst, wie stark ich emotional missbraucht wurde, der körperliche Missbrauch kommt noch hinzu. 

 

Dieses Werkzeug "Angst um Dich!" war über Jahrzehnte lediglich eine der unzähligen Tentakeln, mit denen mich meine Mutter in ihrem emotionalen Würgegriff hatte. 

 

Unterm Strich hat der schwarze Anteil in meinem Werte-Rad folgende Botschaft: "Ich nutze Angst, um Dich zu kontrollieren."

 

Und das ist definitiv KEIN Wert, der von mir kommt. Aber er hat sich bei mir eingeschlichen, festgewanzt und sich auch in der oben beschriebenen Situation mit meiner Tochter gezeigt. 

 

Was aber ist nun die Lösung? Der wichtigste Schritt ist für mich definitiv IMMER das Erkennen dieser Trojaner. Jede/r von uns bekommt die Lösungen für seine Blockaden immer auf dem Silbertablett serviert - wir sind durch unsere antrainierten blinden Flecken nur oftmals noch nicht in der Lage, diese zu erkennen und zu bearbeiten. Deshalb blogge ich hier so ungeschminkt. Ich bin eine von Euch. Eine Misshandelte, die man darauf konditioniert hat, zu funktionieren und die kranken Bedürfnisse der Bezugspersonen zu erfüllen. 

 

Aber ich bin schon lange ausgestiegen aus dieser abartigen Achterbahn. Und noch immer habe ich "Trojaner im Kopf", Falschprogrammierungen. Und ich werde nicht müde, sie alle auszulöschen. 

 

Zurück zum "schwarzen Anteil" in meinem NEUEN  Werte-Rad. (Bild römisch II).

Ich habe ihn ausgetauscht. Gegen einen neuen Anteil. Einen Anteil von mir. Und er heißt: "Ich vertraue Dir, dass Du eine gute Lösung für Dich findest." Das ist die Botschaft, die ich meinen Kind ins Leben mitgebe. Das Leben birgt so viele Herausforderungen - ich traue Dir zu, dass Du immer eine gute Lösung findest. 

 

Ich habe es geschafft, einen fiesen Anteil, der nicht von mir ist, zu identifizieren. Er hat so viel Leid verursacht in den vergangenen Jahren. Er war mir eingepflanzt worden aus niedrigen, egoistischen Gründen. Um mich zu kontrollieren, zu verunsichern, klein zu halten. Um sich an mir zu laben und sattzufressen - weil man selbst so leer war. 

 

Dysfunktionale Familien und ihre Auswirkungen haben viele Gesichter. Viele hässliche Gesichter. Es ist Zeit, diese aufzuzeigen, zu enttarnen. Und genau deshalb schreibe ich so ungeschminkt darüber. Um jenen, die das lesen, ein Mut-Ruf zu senden und zu sagen: "Du bist nicht alleine!"

 

Sei unbedingt ganz gut zu Dir!

 

Herzlichst. Steph

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Kommentare: 3
  • #1

    Luna (Dienstag, 28 März 2023 13:48)

    Das ist so unfassbar klar dargestellt. Genau so läuft es! Man kriegt über Jahre einen Scheiß eingeimpft und merkt es nicht - weil man vertraut. Jedenfalls gut gelöst - das Werterad merke ich mir!

  • #2

    Manuela (Donnerstag, 30 März 2023 13:59)

    Super Beitrag! Was mir dazu eingefallen ist : Wie soll ich einen 54 Jahre alten Haufen Sch... mit einem Knopfdruck in der Toilette runter spülen? Da verlange ich glaub ich zu viel von mir?! So wie man mich immer mit Sanktionen unter Druck setzte, nur funktioniere ich heute nicht mehr!

  • #3

    Steph (Donnerstag, 30 März 2023 14:38)

    @Manuela: Richtig erkannt. Heilung auf Knopfdruck geht m.E. nicht. Mit der Erkenntnis ist schon viel erreicht - und dann nutzt man jeden Stein, den man entdeckt, zum Brücken-Bauen...eine Brücke zu Dir selbst. Es ist ein Prozess. Was über Jahre an uns antrainiert wurde, verschwindet nicht innerhalb von Stunden oder Tagen. Es braucht eben auch seine Zeit. Liebe Grüße!